Foto (sw) Wolfram Seeger Dokumentarfilm von Wolfram Seeger

TAUBBLIND
BRD 2001, 90 Minuten

Foto (farbig) einer lachenden jungen Frau auf einer Schaukel
Eine ältere Frau tastet sich langsam den langen Flur entlang. Sie ist taub und blind. Suchend setzt sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Endlich hat sie das richtige Zimmer gefunden. Dort steht eine alte Standuhr. Die Frau stellt sich dicht an das Gehäuse, legt die Hände fest daran und wartet. Die Uhr ist schon über 100 Jahre alt und die Stellen, wo immer wieder die Hände liegen, sind schon ganz abgegriffen. Zur vollen Stunde schlägt die Uhr. Die Frau fühlt nach ihrer Blindenuhr am Handgelenk und stellt beruhigt fest, dass sie richtig geht. Der Filmemacher und Grimme-Preisträger Wolfram Seeger (Dornröschen - Zwei Kinder erwachen aus dem Koma) hat im letzten Jahr mehrere Wochen im Potsdamer Oberlinhaus gewohnt, um das Leben taubblinder und hörsehbehinderter Menschen zu dokumentieren. Seit 1871 werden in der diakonischen Einrichtung diese mehrfach behinderten Menschen begleitet und unterrichtet. Ganz bewusst ließ sich der Autor auf den Alltag, die Lebensgewohnheiten und die Eigenarten der kleinen und großen Bewohner in Deutschlands ältestem Taubblindenheim ein.Behutsam nimmt er seine Zuschauer mit in eine eigentlich ganz normale und dennoch ganz unvorstellbare Welt.Sehende und Hörende können nur erahnen wie es wohl sein mag, wenn man immer von Stille und Dunkelheit umgeben ist. Josephine ist seit ihrer Geburt geistig behindert und taub. Mit zunehmendem Alter verringert sich ihre Sehkraft. Wolfram Seeger begleitet das 14jährige Mädchen und ihre Lehrerin. Der Unterricht mit hörsehbehinderten und taubblinden Kindern ist Schwerstarbeit. Es bedarf unendlich viel Geduld, diesen Kindern ganz einfache und grundsätzliche Dinge des Alltags zu vermitteln: Essen und Trinken ohne fremde Hilfe, eigene Orientierung, selbständige Hygiene und erste Schritte der Kommunikation. Es geht nicht gleich um das ABC. Vielmehr steht das Kennenlernen und Wiedererkennen von wichtigen Dinge des Alltags im Vordergrund. Die Bezeichnungen drücken die Lehrer zunächst in einfachen Gebärden aus. Später dann werden aus den Gebärden Worte und die Buchstaben eines Wortes 'fingert' man in die Hand. Das nennt man dann Daktylsprache. Erfolge lassen oft auf sich warten. Doch wenn sich ein Kind nach langen Mühen äußert oder von allein aktiv wird, dann ist es, als öffne sich eine Tür - eine Tür zum Leben. Die älteren taubblinden Bewohner haben sich meist mit ihrem Leben arrangiert und gestalten den Tag weitestgehend selbst. Sie arbeiten in einer geschützten Werkstatt und unternehmen ganz unterschiedliche Dinge in ihrer Freizeit. Sie spielen gern 'Mensch ärgere dich nicht', machen Ausflüge, und wenn Sie ihre Ruhe haben wollen, dann ziehen sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Dort hat alles seinen gewohnten Platz und nichts darf verrückt oder verlegt werden. Sonst beginnt die Sucherei und wer kann das schon leiden. Wolfram Seeger hat nach über 40 Filmen seinen eignen Filmstil entwickelt. Sehr sensibel nähert er sich Themen, die im Prinzip ganz unpopulärer sind. Wie in seinen bekannten Werken 'Lichtblicke'(über Autisten) oder 'Wie ein quälender Schatten' (über Opfer von Gewalttaten) verzichtet Seeger auf Kommentare und Musik. Die gezeigten Personen erzählen selbst, lange Bildeinstellungen sprechen für sich. Lediglich auf sparsame Untertitel darf der Zuschauer hoffen, um die handelnden Menschen zu erklären. Im Film 'Taubblind' kann der geneigte Zuschauer eintauchen in das Leben von unscheinbaren Menschen, die sonst kaum wahrgenommen werden. Ihre Welt ist meist dunkel und still, aber trotzdem sehr intensiv. Die Akteure sind nicht geschminkt, sie sagen keine Texte auf und die Szenen sind nicht gestellt. Wolfram Seeger präsentiert einen anspruchsvollen Dokumentarfilm in Reinkultur.